Eben rief meine Mutter an. Tante Ulla ist gestorben. Sie war 85 und es ging ihr seit Monaten nicht gut, trotzdem trifft es. Heftig. Dabei war sie gar keine echte Tante, sondern eine "Nenntante", eine Freundin meiner Eltern. Für mich ist sie immer "Tante Ulla" geblieben.
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In den 1960er Jahren, als meine Eltern gerade ihr Haus gebaut hatten und jeden Pfennig gut gebrauchen konnten, haben sie zwei Zimmer an Wochenendgäste vermietet. Die ersten (und auch letzten, weil jedes Wochenende anwesenden) Mieter waren Tante Ulla und ihre Familie. Sie kannte mich seit meiner Geburt; es gibt Bilder aus der Zeit, damals war sie Mitte vierzig, hatte selber keine Kinder und ihren Spaß daran, mich gelegentlich im Kinderwagen herumzuschieben.
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Als Kleinkind bin ich sonntagsmorgens früh zu ihr ins Zimmer getapst und habe sie geweckt, sie sollte mir vorlesen. Sie hätte sicher gerne ausgeschlafen, aber sie hat nie "nein" gesagt, sondern mich in den Arm genommen und meinen Wunsch erfüllt.
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Später, als sie geheiratet hatte, kaufte sie mit ihrem Mann zusammen ein altes Haus im Dorf meiner Eltern, nur ein paar Hundert Meter entfernt. Sie waren an den Wochenenden und in den Ferien da, auch ihre Nichte kam häufig und wir wurden Freundinnen.
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An den Sommerwochenenden haben wir in ihrem Garten Zelte aufgestellt und dort übernachtet. Wir haben aus der großen Stadt mitgebrachtes Leinsamenbrot gegessen - das gab es damals im Dorf nicht - mit selbstgepflückten Johannisbeeren drauf. Johannisbeeren dicht an dicht auf die Brotscheibe legen und mit der flachen Seite einer Messerklinge plattmatschen. Der Saft zieht ins Brot ein und es schmeckt wunderbar fruchtig und ab und zu knirscht es von Leinsamen- oder Johannisbeerkernen.
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Sie war Englischlehrerin mit Leidenschaft. Überhaupt sehr gebildet und gut im Vermitteln von Wissen. Sie hat mit Sicherheit einen Anteil daran, dass ich mich für Geschichte und Englisch und englische Geschichte zu interessieren begann. In ihrem Haus gab es jede Menge Bücher zu einer Vielzahl von Themen, und ich durfte immer welche ausleihen. Meine Eltern hatten einen Schlüssel zum Haus, und mein Bruder und ich durften Bücher holen oder zum Lesen hingehen, wann immer wir wollten.
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Sie sprach Hochdeutsch fast ohne Dialektanklang, obwohl sie mitten aus dem Ruhrpott stammte. Sie versuchte immer, den im Dorf gesprochenen Dialekt zu lernen und ließ sich von uns Wörter vorsprechen. Ihre Versuche des korrekten Nachsprechens lösten bei uns regelmäßig wahre Lachkaskaden aus.
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Sie hatte viel Humor und lachte gern. Aber erzählte Witze hat sie nie verstanden. Die Pointe musste man ihr immer erklären. Und meist nicht nur einmal! Aber dann hat sie umso länger gelacht, über den Witz und über sich selbst.
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Sie rief im Dorf eine private Jugendgruppe ins Leben, als so etwas in der Region noch völlig neu und unüblich war. Jugendarbeit? Neumodisches Zeug! Sie war zäh und konnte enervierend dickköpfig sein, aber sie hat einiges auf die Beine gestellt.
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Sie hat sich die dörflichen Sitten erklären lassen, begeistert selbst mitgemacht und vieles mit der Super-8-Filmkamera festgehalten. Zum Beispiel die geschmückten Straßen für die Fronleichnamsprozession. Heute wird diese in der damaligen Form nicht mehr abgehalten, und so sind die Filme inzwischen ein Dokument der Zeitgeschichte. Das hat sie damals schon vorausgesehen und fand es wichtig, Traditionen zu dokumentieren.
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Als ich in der Oberstufe war, fühlte sie sich als eine Art Tutor und war immer bereit zu helfen. Das recht gute Englisch-Abitur geht auf ihre Kappe. Was ihr besonders am Herzen lag, war selbständiges Denken - unvergessen ihr Ausspruch "ihr habt doch den Kopf nicht nur, damit es nicht in den Hals regnet!"
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Sie war wie eine Extra-Patin und verhielt sich entsprechend: zum 18. Geburtstag bekam ich eine Brosche von ihr und zum Abitur einen Brillantring, der ihrer Mutter gehört hatte. Zu meiner Hochzeit schenkte sie mir eine Antiquität, einen alten Schrank, den ich schon als kleines Mädchen bei ihr bewundert hatte.
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In den letzten Jahren war sie gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe und seltener im Dorf. Zuletzt getroffen habe ich sie vor einem halben Jahr. Trotzdem spüre ich jetzt eine ziemlich große Lücke. Ich kannte sie mein ganzes Leben. Eine der Verbindungsleinen zur eigenen Kindheit ist gekappt, und das tut weh. Liebe Tante Ulla: Ich werde deine Brosche und deinen Ring tragen und jeden Tag deinen Schrank auf- und zumachen und ab und zu dabei innehalten, an dich denken und mich erinnern.
Die Nachricht macht mich traurig.
AntwortenLöschenLeider kannte ich Ulla nur relativ kurz von den in letzter Zeit seltenen Treffen im Dorf oder bei Deinen Eltern.
Als ich sie kennen lernte fand ich direkt nen guten Draht zu Ihr und habe mich über jedes Treffen gefreut.
Ich werde sie in guter Erinnerung behalten.